Tabernakel

von Bodo Hell
zu Kurt Straznickys Schattenplatten im Wiener Stephansdom

Eines der künstlerischen und spirituellen Hauptwerke der zentralen Domkirche der Stadt und des ganzen Landes ist der (für diese im 19. Jh. erworbene und dann mehrfach versetzte) Sakramentsaltar im (linken) Frauenchor, der sogenannte Wiener Neustädter Altar, eine Stiftung des (späteren) Kaisers Friedrich III. aus dem Jahr 1447 an die Zisterzienser im damals steirischen Wiener Neustadt.
1447 ist die Jahreszahl (in gotischen Ziffern ausgeführt, also die 4er als halbe 8er und der 7er gekippt), die gemeinsam mit der (mehrfach interpretierbaren) Vokal-Akronym-Devise A·E·I·O·V·1447 A·E·I·O·V·1447, also zweimal, auf weißem Feld in roter Umgebung erscheint, und zwar über den mittleren beiden der 8 identischen Maßwerkfensterchen. Die Anordnung der beiden Devisentafeln auf dem oberen Rahmen der durchbrochenen Fensterchenreihe hat in ihrer Strenge und Minimalistik bei allem rotgoldenem Prunk etwas Traurigmachendes an sich (ein wenig so, als stammte dieses Altaraufsatzgehäuse aus stilunsicherer neugotischer Zeit). Dieser längliche leere Reliquienschrein dient zugleich als Predella (Unterbau) für das eigentliche Retabel (Altaraufsatz) und ist mit zwei eigenen (auch doppelseitig szenenbemalten) schmallangen Holzflügelchen (von rechts und links her) schließbar. Darüber erhebt sich das eigentliche Retabel (als eminenter Hintergrund für das Altarschauspiel darunter und davor) mit je einem Paar beweglicher hoher Doppelflügel, ist also zweimal öffenbar und schließbar. Der Flügelaltar bleibt komplett geschlossen an Werktagen: da sieht man außen 24 Heilige und Szenen gemalt, er wird einmal geöffnet an Sonn- und Feiertagen: dann erscheinen 48 Heilige auf Goldgrund gemalt, und man sieht das Innerste geöffnet an Hoch- und Marienfesten: jetzt sind die buntgefaßten Schnitzfiguren (bei vorherrschendem Weiß) aus dem Marienleben zu sehen. Diese merkwürdig gestauchten heiligen Gestalten sind mittig und an den Seitenteilen voll- bzw. halbplastisch ausgeführt. Eben diese eigentlich innerste (vorbehaltene) Schauseite ist zur Zeit ständig offen, mit ihren zwei Registern hochgestischen Figurengewimmels samt miniaturisierten Assistenz- und Beifiguren und schützenden Baldachinchen.

Wenn Sie etwa als Kunsthistorikerin oder laienhafter Kunstliebhaber diesen geschnitzten Marienaltar (überraschenderweise ohne Darstellung der Verkündigung) aus der Nähe anschauen oder/und z.B. auch Ihren Kindern zeigen wollen, weil Sie vielleicht vorher schon am postkartengroßen Papierklappmodell (im Domshop erhältlich) auf die raffinierten Möglichkeiten dieser Heiligen- und Heilsgeschichte-Darstellung hingewiesen worden sind oder selbst hingewiesen haben, dann pfeift man Sie vor Ort gewiß zurück, macht Ihnen eindringlich Ihre Übertretung klar und scheucht Sie definitiv hinter die Seilabsperrung weit retour ins Kirchenschiff. Dort können Sie dann den vielleicht vorsorglich mitgebrachten Feldstecher benützen oder auf eine Führung warten (bei der jener neue Tabernakel des Kurt Straznicky, auf den er hier ankommt, wohl kaum Beachtung finden und erklärt werden wird), oder Sie versuchen es bei speziell glaubwürdig zu machendem Interesse für nächstes Mal mit einem Anruf in der Kirchenmeisterei (Hauptmesner Franz Weinwurm Tel. 01-51552-DW-3766), um die erforderliche Erlaubnis einzuholen, was im positiven Fall dem Aufsichtspersonal mitgeteilt wird, das Sie dann nur mehr kurz kontrolliert.

Den meisten Besuchern und Andächtigen wird der diskret goldfarbene vierteilige Tabernakel, welcher genau unter dem achtteiligen Reliquienhäuschen auf dem eigentlichen Altar positioniert ist, nicht eigens auffallen, richten sich die Blicke doch vor allem auf die Hauptfiguren des Frauenaltars mit der doppelten Marienkrönung darüber oder gleich auf den Riesenstern am Himmel des Dreikönigsbesuchs (rechter Flügel). Wer im Hauptschiff etwa an einer Mittagsmesse teilnimmt, wird sich vielleicht wundern, daß die Assistentin vor der Kommunionausteilung zu diesem Tabernakel unterm Schnitzaltar ins linke Schiff hinübergeht, den Schlüssel dreht, die goldenen Mittelplatten mit den jetzt kaum mehr wahrnehmbaren Schattenrissen zu sich her aufklappt und die konsekrierten Hostien im Ziborium dort aus dem Dunkel der Hauptöffnung herausholt, um sie ans zentrale Speisgitter und Geschehen herüber zu bringen und (begleitet von den mäßigen Klängen der Chororgel) an die Kommunizierenden mit auszuteilen. Jeder (auch auswärtige) Priester, der an einem der vielen Altäre von St. Stephan Messe liest, wozu er aus der Sakristeitür rechts hinter dem Wiener Neustädter Altar heraustritt, holt sich den vervielfachten oder geteilten LEIB CHRISTI aus diesem in die Breite geschwungenen (kantig auslaufenden) Tabernakel heraus oder läßt ihn, den LEIB CHRISTI sich von dort bringen.

Also sag, wie hast Du diesen Auftrag bekommen, wird der Künstler (Bildhauer und Anatom) Kurt Straznicky oft verwundert gefragt, und er verweist meist auf seine vorangegangene Restauriertätigkeit an den herausgehobenen romanischen Steinfiguren der Außenwand und im Tympanon des Riesentors gemeinsam mit Bildhauerkollegen vor einigen Jahren und auf die Kontakte, die sich daraus ergeben haben, was meist nicht als hinreichend erschöpfende Auskunft akzeptiert wird.

Da man ja kaum Gelegenheit bekommt, sich die Konstruktion des Tabernakels aus der Nähe anzusehen, sei darauf hingewiesen, daß die flache Form der Schauseite dieses so scheinbar einfachen wie überzeugenden Kunstwerks selbstverständlich eine durchdachte Rückseite hat, nämlich einen geschwungenen Holzkorpus, der in den steinernen Altarsockel hinten eingelassen ist und in einer annähernd trapezförmigen Kammer das Allerheiligste birgt. Wäre dieser dunkelgefärbte zu einem Breitband geschwungene Holzkörper nicht im Hintergrund der darauf applizierten schwebenden Glasflächen angebracht, könnte man das Doppelbild (oder die beiden Bilder) auf den vier siebbedruckten Glasplatten gar nicht richtig sehen. So aber wird genau dort, wo keine Goldfarbe aufs Glas aufgebracht ist, das Zweifachbild einer liegenden Figur erkennbar, links die Vorderseite/Oberseite (mit seitlich angelegten Armen und im Schoß verschränkten Händen) und rechts die entsprechende Rückseite/Unterseite, nämlich die Spuren einer männlichen Leiche wie schemenhaft auf der Auflagefläche abgedrückt und zum Beschauer in die Senkrechte hochgeklappt. Haupt und Torso haben auf den zwei quadratischen Platten der Mitte Platz gefunden, wobei sich die beiden Köpfe exakt an der mittleren Trennfuge berühren, das heißt eben nicht berühren, denn genau dort werden die Tabernakeltürflügel ja geöffnet, auch handelt es sich nicht um zwei Köpfe, sondern um ein und denselben Kopf und Oberkörper, einmal en face und einmal a tergo zu sehen. Das ließe uns selbstverständlich auch dann, wenn wir nie etwas vom sindone gehört hätten (bei einem Turiner Kirchenbrand ist es bekanntlich im letzten Augenblick gerettet worden), an die Umrißspuren auf einem untergelegten und auf einem darübergestreiften Tuch denken, also an einen lose in eine Stoffbahn eingeschlagenen (und nicht umwickelten) Korpus. Übrigens lassen sich die Fußspitzen am jeweils äußersten rechten und linken Ende, da dort die äußeren (horizontal rechteckigen) Goldplatten über den dunklen Hintergrund hinausragen, nicht mehr deutlich ausnehmen, und es bedarf jetzt nur mehr eines augenblicklichen AHA-Effekts, um in dieser röntgenologisch bemerkenswerten Darstellung das Sandwich-Bild des Turiner Leichentuchs zu erkennen: schon vernehmen wir das tausendfach geflüsterte LEIB CHRISTI, LEIB CHRISTI und imaginieren die zugehörige Präsentationsgeste, verfallen vielleicht sogar in jene Konzeptionsverzückung, die mit dem gereinigten Akt des GottEssens verbunden sein kann, aber wie ist es möglich, daß sich der zerschundene LEIB CHRISTI diesem Leintuch aus Südfrankreich, wo es zum ersten Mal faßbar wird, eingeprägt hat, nämlich im Gegensatz zu den Blut- und Serumspuren nur an der Oberfläche des Gewebes, und was ist von der RadiokarbonMethode zu halten, die das Stoffstück ins Mittelalter datiert, stillschweigend sollen vor kurzem spätere Flicken entfernt worden sein, oder vielmehr neue Flicken von Nonnenhand aufgenäht (in Abständen werden auch immer wieder Meldungen über neue Untersuchungsergebnisse laut), und an welche Reisestationen des Tuchs führt die Pollenanalyse der endemischen Pflanzen zurück, und was könnte es mit dem zeitverschiebenden Auferstehungsblitz auf sich haben, der sich in die Fasern eingebrannt hat.

So etwas konnte bislang nur im Film (THE BODY Israel/USA 2001) geschehen: daß nämlich eine Archäologin in Jerusalem jenes Grab entdeckt zu haben meint, welches die Gebeine des Gekreuzigten enthält, wodurch die Sinnstiftung des Christentums als Auferstehungsreligion (laut script) ins Wanken geriete. Allerdings dürfe man sich nach Ansicht der Exegeten den toten Leib Jesu nicht als mit dem auferstandenen LEIB CHRISTI identisch vorstellen, es gehe mitnichten um die Wiederbelebung eines Leichnams, sondern um den überirdischen Leib, das soma pneumatikon, wie bereits Thomas von Aquin feststellte, also könnten ohne weiteres originale Knochen zu finden sein und gefunden werden.

Ach ja da leuchtet doch das Ewige Licht vom Hängekandelaber seitlich rechts und da ruhen ja die beiden steinernden StifterGestalten auf ihrem MarmorKenotaph, Herzogin und Herzog, die Frau hinter dem Mann, es heißt wie auf Brautbildern einander leicht zugewandt, die Köpfe im Westen, die Gesichter schauen nach Osten, zur Aszension bereit, der Vorhang seitlich schirmt gegen den Blick zum Chorgestühl der HauptaltarApsis ab.

Ein direkter Bezug zwischen altem Flügelaltar und neuem Tabernakel scheint allein schon dadurch hergestellt, daß unsere Vorstellungskraft durch das leere 8-fenstrige Reliquiar zum Bedenken der heiligen Knochen und verehrten Überbleibsel angeregt wird (was war da wohl ursprünglich verwahrt oder für welche Memorabilia war der längliche Hohlraum vorgesehen), während das goldene Doppelbildband darunter einen ebenso schemenhaften wie wirkmächtigen Verweis auf die Körperlichkeit eines historisch konkret gedachten heiligen Menschenleibs darstellt. Als zu Tode erschöpfter Schmerzensmann scheint Jesus im gotischen Schnitzaltar ja nicht auf, sondern nur als Kleinkind, krönender und Marias Seele empfangender Erwachsener sowie als MiniStatue stehend, das eigene Blut der Seitenwunde im untergehaltenen Kelch auffangend. Insoweit ist durch die zurückhaltende Darstellung des (damals) jungen Künstlers an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert und 3. Jahrtausend die zentrale Botschaft am speziellen Ort der Leibverwandlung in Liebesspeise zusätzlich angedockt und als quasi Unterlage ins jeweilige Gesamtbild aufgenommen.

Wenn wir uns die vier Register der Apostel- und Heiligendarstellungen auf den erstgeöffneten Sonntagsseiten des Doppelflügelaltars vorstellen, wobei in jedem der 16 Felder je 3 Heilige frontal (oft beinspielend) samt ihren Attributen posieren (und die in den habsburgischen Landen beliebten Regionalheiligen sind auch darunter), dann korrespondiert der Goldhintergrund dieses dynastischen Heiligenkatalogs wohl so deutlich mit den gut 550 Jahre jüngeren sparsam goldbedruckten Glasplatten der TabernakelSchauseite, daß diese moderne Zugabe markanter als bei geöffneter Marienseite in Erscheinung treten kann.

Und was in Anbetracht der radikalen Entrücktheit der modernen Umsetzung nicht vergessen werden sollte: sogar die Abdrücke der Geißelspuren im Grabtuch sind an den richtigen Stellen des Körpers zu sehen. Auch die Nagelwunden befinden sich am einzig präzisen Ort, nämlich in den Handwurzeln, denn so wie man den Kruzifixus immer dargestellt findet, in den Handflächen durchbohrt, wären diese infolge des Körpergewichts bald durchgerissen und wäre der Gekreuzigte heruntergefallen. Sogar der Daumeneinzug infolge Verletzung des Hauptnervs soll im Tuchbild nachvollziehbar sein, woraus sich wohl Folgerungen für neuzeitliche Stigmatisierte wie Juliane Weiskircher und Therese von Konnersreuth ergeben könnten (Frage: bekommt man als intensivst Nachfolgende die Wundmale dort, wo man sie sich am Vorbild vorstellt oder wie von selbst dort, wo sie realiter vorhanden waren?).

Eine 3-D-Simulation von Jesu Antlitz aufgrund der Bildspuren am Tuch hat gezeigt, daß Münzen auf die Augen des Leichnams gelegt worden waren, nach römischer Sitte, und was die Augen der Wissenschaft am Original sowie die Augen der Dombesucher und wir mit ihnen am TabernakelAbbild sehen können, das gilt den gläubigen Interpreten nicht nur als wahrer Abdruck des toten Leibes, sondern auch als wie immer (und sei es durch quasi fotografisches Imprägnieren der Tuchfasern) zustandegekommene Momentaufnahme beispielhafter Auferstehung.